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Erinnerung und Gegenwart – Zum Palio am 4.Juli 2024
Eine besonderer Artikel für unsere deutschsprachigen Leser von Hermann Hamberger aus Salzburg
Als ich zum ersten mal in den 80-er Jahren in den Tagen des Palio nach Siena kam, hatte ich einfach Anfängerglück. Ich kam bei wunderbarem Abendlicht auf die Piazza del Campo, einen der schönsten Plätze Italiens. Ein Probelauf hatte gerade stattgefunden.Unter Gesängen wurden jetzt die Pferde wieder in ihre Stadtteile zurück gebracht. Ich war direkt hineingestoßen worden in eine eigene Welt, in einen eigenen Kosmos.
Auslöser für meine Reise nach Siena war ein Film, besser gesagt eine Dokumentation. „Siena – Rote Stadt der Madonna“ war eingroßartiges Heranführen an den Palio di Siena. Man erfuhr, dass es 2 Rennen pro Jahr stattfinden, jeweils am 2.Juli und am 16.August. Dass es 17 Stadtteile, die Contrade gibt, davon aber nur jeweils 10 an einem Rennen teilnehmen können. Dass fast alle Stadtteile Tiernamen tragen, wie etwa Pantera (Panter), Lupa (Wölfin), oder auch Tartuca (Schildkröte). Und dass die meisten Contraden Feinde oder zumindest Rivalen haben. Üblicherweise sind es die Nachbarn.
Und der Zufall, das Schicksal, La sorte eine entscheidende Rolle spielt. Aber bevor ich langweile, ab in die Gegenwart:
Es war ein außergewöhnlicher Palio, heuer am 4.Juli ! Nicht zuletzt auf Grund der zweimaligen Verschiebung des Rennens wegen Regens. Am Abend des 2.Juli, dem regulären Termin, war gegen 19 Uhr eigentlich alles bereit. Zwar gab es schon am Nachmittag bange Blicke in den Himmel, auch während des historischen Umzugs, der Stunden vor dem Rennen in der Stadt begann und mit einer Runde um den Campo endete. Aber das Wetter schien tatsächlich auszuhalten. Ein paar Regentropfen fielen zwar, aber diese würde einen Start nicht verhindern. Die Fahnenschwinger aller 17 Contraden hatten Aufstellung vor dem Palazzo Pubblico genommen, zeigten begleitet von Trommelwirbel und Fanfaren die „Sbandierata“, das Hochwerfen der Fahnen der Contraden. Der Siegespreis – ein Seidenbanner- der sich wie das Rennen Palio nennt, war bereits weithin sichtbar über dem Startbereich angebracht worden.
Die Reiter – i fantini – waren unter großem Jubel aus der Entrone des Palazzo Pubblico gekommen, drehten wenig später bereits ihre Runden vor der Mossa – dem Startbereich. Die Capitani der 10 teilnehmenden Stadtteile hatten ihre Plätze am „Palco dei judici“ eingenommen, mit bester Sicht auf das Startgelände. Dann folgte – wie vor jedem Palio – ein wirklich magischer Moment.
Komplette Stille am Campo. Denn traditionell erst jetzt – kurz vor dem Rennen – wurde ausgelost, welchen Platz die Contraden im Startgelände einnehmen dürfen. Dann ein mehrfacher Aufschrei. Die Rivalen Nicchio und Valdimontone, sowie Civetta und Leocorno stehen direkt nebeneinander. Die Lupa, als letzter Stadtteil aufgerufen, darf zwar als „rincorsa“ den Start bestimmen, steht aber außerhalb der „Mossa“.
Es folgte ein erster Startversuch, der aber eigentlich keiner ist. Il Mossiere, der Starter, schickt traditionell mit der Aufforderung „tutti fuori“ die Reiter wieder aus dem Startbereich. Jetzt war wie üblich die Zeit der Verhandlungen unter den Fantini gekommen, da die Reihenfolge am Start nun bekannt war. Es galt durch Absprachen einen guten Start für sich „auszuhandeln“. Bevorzugter „Verhandlungspartner“ war natürlich der Fantino der Lupa, da er den Start des Rennens wesentlich mitbestimmt. Es folgten zwei Fehlstarts und dann…kam der Regen.
Wie man am nächsten Tag lesen konnte, war es in der gesamten Geschichte des Palio noch nicht vorgekommen, dass ein Rennen, das mehr oder weniger schon im Gange war, wegen Regens abgebrochen werden musste.
Eine Verschiebung des Palio um einen Tag ist in Siena nicht extrem ungewöhnlich. Viele Senesen hatten vielleicht diesmal sogar an einen glücklichen Zufall geglaubt.
Denn der 3.Juli 1944 war der Tag der Befreiung der Stadt im 2. Weltkrieg durch die Amerikaner. Es hätte sich direkt angeboten, das Rennen zum 80.Jahrestag auszutragen. Der Wettergott aber hatte erneut andere Pläne. So setzte eine Stunde vor dem geplanten Start am 3. Juli erneut Regen ein, der einen Aufschub um einen weiteren Tag nötig machte.
Aber vorerst eine Rückblende zum 29.Juni. Das ist der Tag der „Tratta“ in Siena. Die Auslosung der Pferde. Ein erster Höhepunkt, und eine ganz entscheidende Weichenstellung für das Rennen. Gespannt warteten tausende Zuschauer und vor allem die Mitglieder der 10 teilnehmenden Contraden, als die vorher durch Probeläufe den sogenannten „batterie“ ausgewählten Pferde durch das Los zugeteilt wurden. Gegen ca.14 Uhr wurden dabei vor dem Palazzo Pubblico unter der Regie der regierenden Bürgermeisterin die von zwei „Waisenkindern“ gezogenen Nummern den jeweiligen Pferden zugeordnet und diese sofortden Contraden übergeben. Acht von zehn Pferden waren diesmal Neulinge beim Palio, dass ließ genug Platz für sehr viel Spekulation und Unsicherheit.
Erst jetzt war es Zeit für die Contraden, sich einen passenden Reiter – einen Fantino, für ihren Stadtteil zu engagieren. Aber die Anzahl der (guten) Reiter ist limitiert. Es erfordert wirklich besonderen Mut als Reiter einen Palio zu bestreiten. Es wird nicht nur ohne Sattel geritten, sondern auch mit einer Peitsche, die nicht immer nur dazu dient, das Pferd anzutreiben. Die besten Reiter sitzen gewöhnlich auch auf den aussichtsreichsten Pferden. Und jeder dieser Fantini trägt einen Spitz – oder Künstlernamen.
Der aktuell mit Abstand erfolgreichste Reiter heisst Giovanni Atzeni. Er hat bereits 10 Palii gewonnen nennt sich Tittia. Er ritt diesmal für die Contrada Oca (die Gans). Die Oca hatte den letzten August-Palio sogar ohne Reiter gewonnen.
Auch das zählt hier in Siena und gilt als besonders schöner Sieg. Welchen Stellenwert der Palio in Siena hat, zeigte dass selbst die heuer parallel zum Palio stattfindende Fussball – Europameisterschaft nahezu unbeachtet blieb. Trotz des zeitgleich zum ersten Probelauf stattfindenden 1/8 – Finalspiels Italien gegen die Schweiz war der Campo wie üblich nahezu voll gefüllt. Und nach dem Ausscheiden der Squadra Azurra hielt sich das Interesse an Fußball in absolut überschaubaren Grenzen.
Die insgesamt 6 Probeläufe bis zum 2.Juli dienten wie üblich neben dem Kennerlernen der Pferde auch dem Beobachten der Rivalen.
Am Abend des 1.Juli fand traditionell in jeder teilnehmenden Contrada ein „Cena della prova generale“ statt. Ein großes gemeinsames Essen, an dem je nach Größe des Stadtteils bis zu 3.000 Personen teilnehmen. Ein Beisammensein, der einem Außenstehenden diesen einzigartigen Zusammenhalt einer Contrada erst richtig erkennen läßt. Und es war natürlich bei allen 10 Contraden der Abend, die Nacht der Hoffnung.
„Domani è Palio !“, „Morgen ist das Rennen !“, wurden noch einige Touristen belehrt.
Wir wissen, dass es anders kam. Es hieß zwei Tage warten.
Am Morgen des 4.Juli war aber zumindest klar, dass das Wetter diesmal kein Grund für eine weitere Verschiebung sein konnte. Es wurde spekuliert, wem diese 2 Tage Pause eher genützt oder geschadet hatten.
Der Campo füllte sich erneut, bis auf den „fehlenden“ historischen Umzug erlebte man najezu ein „deja vu“. Ein Böller kündigte die Reiter an, die sich gemächlich in Richtung Mossa, dem Startbereich begaben.
Der Starter rief eine Contrada nach der anderen in die Mossa. Schon der erste Start schien zu klappen, dann doch der Knall des Böllers, das Zeichen für einen Fehlstart. Auch ein 2. Versuch endete mit dem „Zurückschießen“ durch den „Mossiere“.
Aber dann, im 3. Anlauf, eine „Mossa valida“, ein gültiger Start. Sofort in Führung die Oca mit Tittia aus einer eigentlich schlechten 8.Startposition gefolgt von Leocorno und Onda .
So geht es zum ersten mal in die ganz gefährliche Curva di San Martino. Civetta stürzt, voran weiter Oca, dicht gefolgt nun von der Onda, die nach Ende der ersten von drei Runden jetzt sogar in Führung geht.
Carlo Sanna der sich als Fantino Brigante nennt, blickt mehrfach zurück um die Lage hinter sich besser einschätzen zu können. Zum 2. Mal durch die San Martino, Onda immer noch voran, Oca knapp dahinter vor Leocorno, aber da, ein wilder Sturz ausgelöst vom Mitfavoriten Val di Montone, der auch die Reiter von Nicchio und Pantera zu Boden zwingt. Zwei Fantini bleiben offenbar bewusstlos liegen, müssen sofort von der Bahn gebracht werden.
Die Oca versucht alles um an der Onda vorbeizukommen. Die letzte San Martino: Noch zwei mal ein kurzer Blick zurück von Brigante auf seinen Verfolger. Er reitet diese Schlüsselstelle hervorragend. Tittia ist aber nicht abzuschütteln. Es folgt ein letztes mal die „Curva di casato“, eine Aufwärtskurve die schon manchem Führenden im letzten Moment zum Verhängnis wurde.
Aber auch diese Hürde meistert Carlo Sanna und rettet den knappen Vorsprung ins Ziel. Sein 3. Sieg . Danach explodierende Freude. In einem blau-weissen Fahnenmeer wird der gewonnene Palio triumphierend um den Campo und dann in die Chiesa di Provenzano getragen, um für den Sieg zu danken.. Nach 7 Jahren also wieder ein Sieg der Contrada der „Welle“, der Onda.
Und sie träumen bereits vom ganz seltenen Fall eines „Cappotto“, eines 2.Sieges im selben Jahr.
Beim Palio im August, wo die Contrada Fixstarter ist . „Chissa“ – wie die Italiener sagen würden – wer weiß ?
Hermann Hamberger